Indien ist noch immer sehr patriarchalisch und konservativ geprägt. Zwar verliert das Kastensystem vor allem in den Städten zusehends an Bedeutung und offiziell darf auch niemand wegen seiner Kaste diskriminiert werden, dennoch prägt es nach wie vor die Gesellschaft. Vor allem Frauen bekommen das zu spüren, so wie sie leider auch ganz allgemein Diskriminierung und Sexismus im Alltag erfahren.
Die Situation wird nicht einfacher, wenn man als Frau zudem noch einen geächteten Beruf ausübt. Wie mit solchen Frauen mitunter umgegangen wird, dass musste Ajeet Singh im Jahr 1988 mitansehen. Im Alter von 18 Jahren beobachtete er auf einer Hochzeit, wie die Gäste mit der Tänzerin, die zudem Sexarbeiterin war, umsprangen. „Es tat mir leid, wie sie von den anderen behandelt wurde“, erklärt Ajeet rückblickend. Damals fasste er einen bemerkenswerten Entschluss.
Als es endlich möglich war, mit der Tänzerin zu sprechen, entschied er sich, ihre drei Kinder zu adoptieren, um ihr und natürlich den Kindern selbst zu helfen. Anstatt später ebenfalls sexuell ausgebeutet zu werden, sollten die Kinder die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ajeet unterrichtete sie in seiner Freizeit, während er zur Uni ging. Doch dabei blieb es nicht.
1993 – fünf Jahre nach der schicksalhaften Begegnung auf der Hochzeit – gründete Ajeet „Guria“, eine Hilfsorganisation zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Frauen und Kindern, speziell Zwangsprostitution und Menschenhandel. Allein in seiner Heimatstadt hatte er die Problematik täglich vor Augen. Durch den Sextourismus und das Aufkommen von AIDS wurden diese Probleme nur größer und gefährlicher.
Laut UN gibt es in Indien rund 660.000 Prostituierte – weltweit Platz 2 hinter dem Kongo – und mindestens acht Millionen Menschen, die in moderner Sklaverei leben. Ajeet Singh schätzt die Zahlen jedoch deutlich höher ein und geht von drei Millionen Frauen in der indischen Sexindustrie aus, wovon 40 % Kinder seien und 75 % durch Menschenhandel dort hineingefunden hätten.
„Es ist eine Vielzahl von Gründen, die zu Kinderhandel führen“, meint Ajeet. „Hauptsächlich fehlende Gleichstellung der Geschlechter und Armut. Es ist ein soziales Problem. Schulkinder sind am anfälligsten. Es passiert, wenn sie minderjährig sind.“
Seit der Gründung von Guria haben Ajeet und sein Team an die 2.500 Kinder vor der Sexarbeit gerettet. Dabei ging Ajeet auch ein persönliches Risiko ein, indem er sich als Freier ausgab, um Nachforschungen zu betreiben und Kontakt zu den Betroffenen aufzunehmen. Aber seine Bemühungen wurden belohnt. So kam es zum Beispiel vor, dass er und seine Mitstreiter an einem Tag 15 Mädchen aus einem Bordell befreien konnten.
Daneben werden gerettete Frauen und Kinder darin unterstützt, die schwere Zeit zu bewältigen und ein neues Leben zu beginnen. Aktuell unterstützt Guria mehr als 6.800 Kinder; 5.400 von ihnen konnte bereits eine Ausbildung ermöglicht werden.
Neben seinem Team erfährt Ajeet viel Unterstützung von seiner Ehefrau Santwana Manju, die selbst ein Waisenkind war und nun eine treibende Kraft hinter Guria ist.
Und obwohl Sexarbeit und Menschenhandel nicht nur in Indien, sondern weltweit – auch im Westen – kaum zu bändigende Probleme sind, bleibt zu hoffen, dass Ajeet Singh, seine Frau und sein Team von Guria noch viele Frauen und Kinder vor diesem Schicksal bewahren und ihnen ein besseres Leben ermöglichen.
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Vorschaubild: © Facebook/Guria India